Selbst wenn man weiß, dass die Figuren aus Silikon oder Wachs, Polyester oder Bronze gefertigt wurden, irritieren oder verblüffen sie den Betrachter. In einer fulminanten Schau in der Kunsthalle Tübingen ist zu sehen, wie sich diese Skulpturengattung in den letzten 50 Jahren entwickelt hat. Der Amerikaner Duane Hanson war der Erste, der hyperrealistische Figuren in Ausstellungsräume holte. Berühmt gemacht hat ihn seine Putzfrau, die in der Staatsgalerie Stuttgart für immer den Boden zu wüschen scheint. Auch John De Andrea und George Segal strebten die perfekte Illusion menschlicher Körperlichkeit an und schufen mit technisch aufwendigen Verfahren lebensecht wirkende Skulpturen. Längst Ikone zeitgenössischer Skulptur, die an Genmanipulation denken lässt, ist Ron Muecks A Girl, ein beängstigend überdimensionaler Säugling von fünf Metern, dem noch die Nabelschnur am blutverschmierten Bauch hängt…
Archiv des Autors: Cult
Soziale Skulptur „Space Ship“
Der Münchner Künstler Markus Heinsdorff hat sich bisher mit außergewöhnlichen architektonischen Installationen, so dem sog. Ocean Dome in Kapstadt oder seinem deutsch-chinesische Haus auf der Expo Shanghai, einen Namen gemacht. Jetzt hat er einen Lebensraum als Zukunftsarchitektur in Zeiten der Erderwärmung gebaut. In diesem Sommer lag sein sieben Meter langes und sechs Meter hohes Space Ship vor dem Buchheim Museum am Starnberger See vor Anker. Im Interview erzählt der Erfinder, als ich ihn auf seinem Boot besuche, wie sein Leicht- und Modulbau für Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben, in Zeiten der Erderwärmung in überfluteten Gebieten eine Bleibe darstellen kann. Das wie ein Katamaran schwimmende Space Ship hat er aus handelsüblichen, industriell gefertigten Stahlblechprofilen konstruiert, mit einer Plattform, die von recycelten 200 Liter-Stahlfässern getragen wird . Die Sonne liefert die Energie für die Dusche mit vollautomatischer Gießanlage. Die obere Etage ist zugleich Wohnraum, Schreibplatz und Aussichtsplattform. Im Schlepptau befindet sich ein Gemüsegarten, in dem Salate, Gemüse und Gewürzpflanzen wachsen. Zusammengelegt lassen sich alle Einzelteile des Bootes einfach ans Wasser transportieren und wieder aufbauen. Der obere Aufbau ließe sich bei uns in Deutschland, versichert Heinsdorff, auch als Konstruktion auf dem Hausdach vorstellen, um etwa einen Panoramablick bis in die Berge zu genießen…
Der kategorisierte Mensch
Rassismus ist keine europäische Erfindung. Das Phantom Rasse wurde von der Wissenschaft zu einem willkürlichen, globalen Begriff geformt. Weder genetische Unterschiede noch ausgeprägte Körpermerkmale wie etwa die Hautfarbe rechtfertigen menschliche Kategorien. Deshalb ächtete 1995 eine Unesco-Deklaration den Rasse-Begriff sowie jede biologisch und soziologisch rasseähnlichen Klassifikationen. Angesichts unserer derzeitig gespaltenen Gesellschaft hochaktuell ist die vom Dresdner Hygiene-Museum ausgerichtete Ausstellung, die die Rassenkonstruktion und die Rassenpolitik der Nationalsozialisten bis hin zur kolonialen Gewaltherrschaft thematisiert. Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etablierte Weltordnung wird als prägend bis heute beschrieben und schlägt damit den Bogen zu aktuellen globalen Fluchtbewegungen. Die rassische Ideologie der Ungleichheit bereiteten den Weg, um politische Hegemonien und ökonomische Ausbeutung außerhalb Europas zu legitimieren. Ein Gemälde von Anne-Louis Girodet erzählt von einer historischen Errungenschaft des Rechts auf Freiheit: Eine Gruppe von haitianischen Delegierten hatte dem revolutionären Parlament 1794 mit Erfolg unterbreitet, die Sklaverei abzuschaffen. Einer dieser Delegierten war der ehemalige Sklave Jean-Baptiste Belley….
Facing India
Erstmals zeigt das Kunstmuseum Wolfsburg in Deutschland eine Ausstellung mit sechs Künstlerinnen aus Indien. Sie gehen der Frage nach, wie sich ihr Land aus weiblicher Sicht darstellt. Jenseits von Schubladen- und Kastendenken spiegeln die Exponate eine Art kollektives Plädoyer, das sich in einer zunehmend globalisierten Welt nicht mehr nur auf Indien konzentriert, sondern auch andere Länder einbezieht. Staat, Gesellschaft und Individuum, Identitäts- sowie Umweltfragen werden kritisch unter die Lupe genommen. Dabei zieht sich die Stellung der Frau sowie Solidarität und Empathie wie ein roter Faden durch die Schau. Eine der radikalsten Positionen in der gegenwärtigen Kunst Indiens vertritt Tejal Shah, *1979, deren Werk sich um die pure Essenz von Existenz dreht. In einer Fünf-Kanal-Installation ihrer Documenta-13-Arbeit „Between The Waves“ erkunden scheinbar aus Zeit und Raum gefallene Wesen eine urzeitliche und zugleich unverkennbar zeitgenössische Welt. Offen thematisiert sie in Arbeiten wie „Women like us“ und „I am“, einer Porträtreihe von Inderinnen, deren Selbstverständnis sich nicht mit den konservativen Vorstellungen von weiblicher Identität deckt oder mit „Untitled (On violence)“ die Gewalt durch den Staat gegen das sog. dritte Geschlecht (hijra)…
Frauen-Power im Dialog
AIst es heute noch sinnvoll, Ausstellungen ausschließlich Kunstwerken von Frauen zu widmen? Welchen Beitrag hat diese Art der Präsentation zur Anerkennung der künstlerischen Arbeit von Frauen bisher geleistet? Mit diesen Fragen beschäftigte sich unlängst das Kunstmuseum Salzburg in einem Symposium, in dem historische und jüngere Beispiele diskutiert wurden. Gewiss ist, dass das Geschlechterdenken oft noch eine große Rolle spielt, wenn es um die Wirkung von Künstlerpositionen und die Rezeption von Werken geht. Obwohl Frauen einen Anteil von etwa 60 Prozent aller Studenten der Bildenden Kunst bilden, sind sie bis heute in Museen und Ausstellungshallen immer noch unterrepräsentiert – was sich besonders in den institutionellen Sammlungseinkäufen widerspiegelt. Augenfällig sind ebenso die Unterschiede bei den Rekordpreisen auf den internationalen Auktionen, wo Werke männlicher Künstler auch mal mehr als 100 Millionen Dollar erzielen (etwa kürzlich das Modigliani-Gemälde Nude) , während die Preise für Werke von Künstlerinnen weit darunter liegen. Könnte es sein, dass männliche Sammler sich auf Auktionen gern gegenseitig beweisen, wer den längeren Atem hat, und dass sich für dieses Spiel eher die Kunst solcher Künstler eignet, die wie etwa Damien Hirst dem Sammlertyp des männlichen Geschäftsmanns in Sprache und Denken nahekommen? Oder liegt es einfach daran, dass Frauen nicht so viel „Geschrei“ um ihre Werke machen und deshalb nicht so hoch gelistet werden, obwohl sie oft solidere und künstlerisch wertvollere Werke schaffen? Die Münchner Sammlerin Ingvild Goetz hat anlässlich des 25jährigen Bestehens ihrer Kunstkollektion eine dreiteilige Ausstellung mit dem Titel „Generations. Künstlerinnen im Dialog“ initiiert. Sie sieht in der Kunst von Frauen eine genuine weibliche Ästhetik, die „mich viel stärker anspricht und herausfordert“, als dies bei der männlichen Kunst der Fall sei….
Die Welt von Setsuko Ono
Sie hat ihre Kunst lange Zeit im Verborgenen gehalten: Als sie damit begann, tat sie es nach Feierabend. Tagsüber arbeitete die Japanerin Setsuko Ono, die jüngere Schwester von Yoko Ono, bei der Weltbank und bearbeitete internationale Entwicklungsprojekte. Doch erst als sie in den Ruhestand ging, zeigte die Künstlerin zum ersten Mal Skulpturen aus Stahl in der Öffentlichkeit. Heute stehen ihre Werke in Kuba, Japan, den USA. Im Februar eröffnet sie ihre erste Ausstellung mit Skulpturen und Gemälden in Europa: in London, mit Arbeiten, die auch mit der VR-Brille hautnah zu erleben sind. Zuvor erzählte sie mir ihre Geschichte im Interview….
Malen ohne Umschweife
In einer großen Ausstellung zeigt das Münchner Lenbachhaus erstmals alle Facetten des vielseitigen, stilistisch breit gefächerten Œuvres von Gabriele Münter. Zu ihrem 140. Geburtstag gewährt die Schau überraschende Einblicke in teils unbekannte Gemälde und Fotografien der Maler-Pionierin aus allen Lebens- und Schaffensphasen. Auf einer USA-Reise entdeckt die 21jährige Künstlerin die Lust am Fotografieren. Eine Kodak-Box ersetzt ihr zunächst den Zeichenstift. Im Umgang mit dem neuen Medium beweist sie ein ausgeprägtes Gespür für komplexe Bildkompositionen. Später entfaltet sich daraus die für ihre Malerei und Grafik so charakteristische Fähigkeit, das Gesehene in klare und reduzierte Umrisslinien treffend festzuhalten und wiederzugeben….
The American Dream
Als ich in die USA, mit der Greencard im Gepäck, einwanderte, um in Kalifornien arbeiten und studieren zu können, schien mir die Welt im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ schwer okay zu sein. Ich war begeistert von der Offenheit, der Freundlichkeit und dem Optimismus der Amerikaner, die mich während meines zweijährigen Aufenthalts in ihrer unkomplizierten Art spüren ließen, keine Fremde in ihrem Land zu sein. Ich war fasziniert vom American Way of Life und glaubte an den vielversprechenden American Dream. Doch langsam merkte ich, dass die Welt um mich herum längst nicht so rosig war wie sie sich anfangs anfühlte. Ich erlebte Rassenunruhen in downtown Los Angeles, und ich erfuhr von der Ermordung Robert Kennedys, kurz nachdem ich sein Wahlkampfbüro in Washington aufgesucht hatte. Ich war desillusioniert und hatte Sehnsucht nach Europa. Aktuelle Ausstellungen versuchen heute, dem amerikanischen Traum und dessen Desillusionierung nachzuspüren und sich zugleich der grandiosen Gesten Amerikas zu erinnern. „Think“ prangt auf der sorgfältig per Hand genähten Flagge, da wo sonst die weißen Sterne der 50 Bundesstaaten abgebildet sind. Denk nach Amerika. Denk nach über Amerika! mahnt das Kunstwerk „Imaginary Flag for USA“, das William N. Copley schon vor vier Jahrzehnten und nicht erst vor Trumps Amtsantritt schuf. Es geriet zum Motto der großen Schau über die US-Gegenwartskunst in Baden-Baden….
Theater of Disappearance
Zum Jubiläum des von Peter Zumthor vor 20 Jahren erbauten und wegen seiner Glasfassade berühmten Kunsthaus Bregenz hat der 37jährige Argentinier Adrián Villar Rojas eine große Bühne für sein Theater des Verschwindens als zentrales Motiv seines Schaffens eröffnet. Zu sehen ist ein vierteiliger Zyklus, eine Passage durch die Geschichte der menschlichen Kultur von ihrer Entstehung (im Erdgeschoss) bis zur ihrer Apotheose (im 3. Obergeschoss) . Die Performance erstreckt sich von ersten erdgeschichtlichen Perioden bis in die ferne Zukunft. Diese markiert am Ende eine berühmte Skulptur, von der nur noch die in Licht und Glanz schimmernden Beine von Michelangelos David vorhanden sind, die nicht von Menschenhand, sondern mithilfe eines 3D-Scans aus Carrara-Marmor geschnitten wurden. Nach historisch und prähistorisch aufgeladenen Zeitkapseln scheint hier der Mensch endgültig durch die Maschine ersetzt worden zu sein….
Kunstbiennale Venedig
Immer dann, wenn bei besonders starker Flut und niedrigem Luftdruck der Wind das Wasser landeinwärts in die Lagune drückt, droht Aqua Alta in Venedig. Wann das Hochwasser kommt, kann mittlerweile gut vorausgesagt werden. Erst bei einem Wasserstand von einem Meter werden Touristen gemahnt, sich mit Gummistiefeln zu wappnen, sinkt der Pegel darunter, genügen blaue Plastiküberschuhe gegen nasse Füße, die am Markusplatz teuer zu haben sind. Als ich im Juli eine Woche lange die Kunstbiennale besuche, regnet es am ersten Tag sintflutartig, und dicht am Canal Grande spritzen Wasserfontänen auf, sobald ein Schnellboot vorbeifuhr. Das Thema Aqua Alta steht auch im Fokus von einigen Künstlern auf der Biennale. Daran gemahnt etwa Giorgio Andreotta Calò im italienischen Pavillon mit seiner düsteren Krypta aus Gerüststangen, die über eine riesige gleißende Wasserfläche führen. Oder wenn der Franzose Michel Blazy im „Pavillon der Erde“, die schleichende Zerstörung Venedigs durch beständig von der Decke tropfendes Wasser auf einen Stapel Broschüren der Stadt symbolisch demonstriert. Mit seiner Installation von Turnschuhen, aus denen Pflanzen sprießen, erinnert der Künstler auch daran, dass sich die Natur in einer möglichen Zukunft ohne Menschen ihr geschändetes Territorium zurückholen wird. Im deutschen Pavillon inszeniert der Shootingstar des globalen Kunstbetriebs, Anne Imhof, ihr furioses, rätselhaftes fünfstündiges Gesamtkunstwerk Faust, das der 38jährigen Performerin den Goldenen Löwen bescherte. Ich befinde mich mit den Besuchern des Pavillons als unfreiwillige Mitspielerin in einer Konstruktion von Macht und Ohnmacht, Willkür und Gewalt, Widerstand und Freiheit. Junge Akteure in lässigen Sportklamotten stellen sich wie Laborratten auf gläsernen Podesten zur Schau, spielen erniedrigte Machtspiele mit einstudierten Gesten. Dumpf verhallt der Schlag der Faust auf der Brust und lässt den Arm mechanisch zurückschnellen. Stumme Schreie zeugen vom Schmerz des zunehmenden Verschwindens des Lebendigen. In der Gruppe formiert, bleibt die ziellose Individualität bestehen. Auch wenn sie gemeinsam singen, singen sie vom Ich. Ähnlich wie in Goethes Faust will die kapitalistische Gesellschaft etwas erkaufen, das es gar nicht gibt. Die Seele gibt es hier nicht….